Bunte Tiere

Vilem Flusser

 

Warum eigentlich sind die Hunde noch immer nicht blau mit roten Flecken, und warum eigentlich leuchten die Hasen noch immer nicht wie Irrlichter in den nächtlichen Gefilden? Um diese Frage anders zu formulieren: Warum eigentlich betreiben wir Viehzucht noch immer mit wirtschaftlichen Absichten, und noch immer nicht mit künstlerischen? Hat sich denn in unserer Beziehung zur Tierwelt seit dem Neolithikum nichts geändert? Das ist eine grundlegende Frage, und der vorliegende Aufsatz hat vor, darüber nachzudenken.
Der Kontext, in welchen die Frage zu stellen ist, ist dieser: Einerseits ist die tierische Produktion in Ländern wie Westeuropa und Nordamerika größer als der Verbrauch, und andererseits begınnen wir über Techniken zu verfügen, welche das Herstellen von programmierten Tierarten gestatten. Also einerseits Ströme von Milch, Berge von Butter und Küstenstriche von Schinken, und andererseits die Möglichkeit, künstliche Tierarten herzustellen. Können denn diese beiden Seiten des Tierproblems nicht zur Deckung gebracht werden, und kann die Viehzucht nicht endlich einmal statt von den aussterbenden Bauern von den sich wie Kaninchen vermehrenden, aber desorientierten Künstlern betrieben werden?

 

Ein synchronisierender Blick auf die Oberfläche Westeuropas, (ein Blick, der Jahrtausende rafft), würde etwa das folgende Bild ersehen: Zuerst wohl eine kühle Steppe mit vereinzelten Baumgruppen, die von Rudeln großer Huftiere durchzogen wird, welche im Frühjahr nach Norden, im Herbst nach Süden wandern, und denen Raubtiere auflauern, (darunter auch Menschen). Dann ein immer dichter werdender Wald, in welchen Menschen Lichtungen schlagen und brennen, weil sie im Wald nicht jagen können, und daher Gras essen müssen. Dann die uns bekannte Szene von Feldern, deren Körner gegessen werden, von Wiesen, auf denen essbare Tiere grasen, und von Wäldern, die zu Zeitungen verwandelt werden können. Und schließlich, (etwas voraussichtig), ein Disneyland, in welchem dank Automatisation  arbeitslos gewordene Menschenmassen gegeneinander stoßen. Die Frage lautet: Wer ist der künftige Disney? Und die Antwort: Er wird, unter anderem, Molekularbiologe sein.
Der tierische Organismus scheidet nämlich Farbstoffe aus, und schon Darwin hat erklärt, daß das eine wichtige Lebensfunktion ist. Sie dient dem Überleben des Individuums, (siehe Deckfarbe) und dem Überleben der Art, (siehe Lockfärbung bei der Paarung). Seit Darwin wissen wir etwas besser, wie diese Farbstoffausscheidung physiologisch und chemisch vor sich geht, und wir beginnen, die mathematisch formulierbaren Streuungen der Farben über den Körper zu verstehen.

 

Jüngst beginnt die Genetik, in diesen außerordentlich komplexen Prozeß, gezielt eingreifen zu können. Sie beginnt, in die Tierpalette wie ein Maler mit Ölfarben mischend eingreifen zu können. Somit wird das Ausscheiden von Farbstoffen bei tierischen Organismen, zu einer wichtigen Funktion des Überlebens des menschlichen Individuums und der Art Mensch, im Disneyland werden. Es wird eine ästhetische Funktion sein. Das Disneyland wird von bunten Tieren wimmeln, damit die Menschen darin nicht vor Langweile sterben.

 

Man sage nicht, dies sei eine verrückte Vorstellung, sondern man nehme lieber eine Taucherglocke, eine Taschenlampe, und tauche in die Tiefsee unter. Man wird dort folgende Szene erblicken: Wälder, Wiesen und Felder von Farben ausstrahlenden, pflanzenähnlichen Tieren wiegen dort mit fächerartigen Tentakel in Strömungen, während riesige regenbogenfarbige Schnecken dazwischen wandern, und glitzernde, silbern, rot und gelb leuchtende Krebse in Schwärmen darüber schwirren. So etwa wird das Disneyland auszusehen haben. Und es wird tatsächlich so aussehen können. Denn die genetische Information, welche den Tiefseetieren erlaubt, dieses „son-et-lumiere-Spiel“ aufzuführen, ist theoretisch und technisch auf Festlandtiere übertragbar. Das wird der künftige Disney zu leisten haben. Er wird „land art“ in großem Stil betreiben müssen.

 

Es wir allerdings ein „land art“ sein müssen, das unverhältnismäßig komplexer, und daher interessanter ist, als das gegenwärtige Beklecksen von Steinen mit Farben. Ein Beispiel für die Komplexität eines solchen Farbenspieles: Es gibt eine Kartoffelart, die von einer Schmetterlingsart bestäubt wird, und dieser Schmetterling ernährt sich ausschließlich von dieser Kartoffel. Beide, Kartoffelblüte und Schmetterlingflügel, haben exakt die gleiche blaue Färbung, nur ist bei der Kartoffel das Blau, Folge eines chemischen Prozesses, (Chlorophyll-abwandlung), und beim Schmetterling Folge eines optischen Prozesses, (spezifische Strahlenbrechung auf spiegelartigen Plättchen). Derartige ökologische Farbspiele wird der künftige Disney durchzuführen haben: Die Farben des einen Tiers werden auf die Farben des anderen aufzuschlagen und dann zurückzuschlagen haben. Das Disneyland wird eine Farbsymphonie zu sein haben, welche zwar im Programm vorkomponiert ist, sich aber dann selbsttätig, (improvisierend), entwickelt. Es wird ein lebendes Kunstwerk zu sein haben.

 

Wird dann von einem derart zu Disneyland verwandelten Westeuropa zusagen sein, es sei nicht mehr „natürlich“, sondern „künstlich“ geworden? Ob man dies nun ein pessimistisches oder optimistisches Urteil nennen würde? Die Antwort darauf ist diese: Die Lichtungen in den Wald brennenden Menschen haben Westeuropa künstlicher gemacht als vorher, und die Feld-und-Wiesen-bauenden noch künstlicher. Das Disneyland wird in der gleichen Richtung gehen. Aber dank diesen Schritten aus Natur zur Kunst, ist Westeuropa immer lebendiger geworden.

 

Es wird im Disneyland zu einem lebenden Kunstwerk werden. Also ist Kunst vielleicht eine Methode, die Natur lebendig zu machen? Das war mit der Frage gemeint, warum wir immer noch nicht blaue Hunde mit roten Flecken haben. Sie stellt sich nach diesen Überlegungen, als tatsächlich grundlegend heraus: Sie fragt nämlich auf neue Art nach dem Sinn des Lebens.

 

 

Veröffentlichung exklusiv für Moderne Reklame, genehmigt von Edith Flusser, 1999